Soziale Inklusion in der höheren Bildung

Das Projekt FHWS 3IN organisierte am 18.11.20 ein zweites internationales Webinar gemeinsam mit den 3IN Allianz Partnerhochschulen. Nachdem das erste Webinar im Mai dieses Jahres ein großer Erfolg war, beschloss das Projektteam, ein zweites Online-Event zu initiieren. Das Hauptthema war dieses Mal die Einbeziehung benachteiligter Gruppen in die Bildung, zusammengefasst unter dem Begriff „Soziale Inklusion“. Dank verschiedener Referent*innen von den 3IN Partneruniversitäten des Projekts beinhaltete das Webinar unterschiedliche Ansätze und Konzepte und bot daher internationale Perspektiven für die bis zu 60 Teilnehmenden. Das Webinar bestand aus fünf Vorträgen von Expertinnen aus drei verschiedenen Hochschulen: der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (FHWS), der Diaconia University of Applied Sciences (DIAK) in Finnland und der VID University in Norwegen.

Nach einer herzlichen Begrüßung durch Dr. Kristina Gehring und Stefanie Witter, den beiden Projektkoordinatorinnen von FHWS 3IN, wurde das Webinar von der ersten Expertin Tanja Kleibl, Professorin der gastgebenden Hochschule, der FHWS eröffnet. 

Tanja Kleibl ist Professorin an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der FHWS und konzentriert sich in der Lehre und Forschung auf Themen der internationalen Sozialen Arbeit und Globalisierung, Migration, Gesellschaft und Politik. In ihrem Vortrag ging sie auf die Verknüpfung von postkolonialer Theorie und Ungleichheit in westlichen Hochschulen ein.

Zu Beginn bettete sie ihre Präsentation in einen globalen Kontext ein und wies auf bestehende Ungleichheiten hin. Sie unterstrich die Tatsache, dass die globalen Ungleichheiten innerhalb und zwischen Ländern und Regionen rapide zugenommen haben. Professorin Kleibl fügte Statistiken hinzu, die Aufschluss über Ungleichheit und Diskriminierung an deutschen Schulen und Universitäten gaben, wobei der Schwerpunkt auf Deutschland und auf dem Begriff "Weißsein" verlagert wurde (siehe Kleibl_3IN-Webinar). Sie beschrieb "Weißsein" als eine politische Definition, die für Privilegien und Rassismus steht. Ihrer Meinung nach werde derzeit nicht genug getan, um Rassismus entschieden entgegen zu treten und indigenes Wissen in einen wissenschaftlichen Kontext einzubeziehen. Dieses Wissen müsse dekontextualisiert werden, was nur möglich sei, wenn neue didaktische Methoden entwickelt würden, da es nicht ausreiche, nur neue Informationen zu vermitteln. Vielmehr müsse eine ethische Solidarität in die Lehre integriert werden. Sie zog die Schlussfolgerung, dass eine effektive Bekämpfung von Rassismus an Hochschulen und damit eine vollständige Inklusion aller Studierender nur durch die Stärkung ethischer Standards und durch die Entwicklung vielfältigerer Methoden erreicht werden könne. 

Hier die Folien zum Vortrag.

Inger Marie Lid ist Professorin am Zentrum für Diakonie und Berufspraxis an der VID-University in Norwegen. Ihr Schwerpunkt in Forschung und Lehre liegt auf interdisziplinärer Behindertenforschung, Staatsbürgerschaftsstudien und Forschungsethik. Zusammen mit anderen Professor*innen hat sie ein pädagogisches Pilotprojekt über den Zugang zur Hochschulbildung für Studierende mit geistiger Behinderung entwickelt. Inger Marie Lid setzt sich leidenschaftlich für den gleichberechtigten Zugang zu Hochschulen ein, da sie als Frau noch vor wenigen Jahrzehnten selbst Probleme hatte, Zugang zu Hochschulen zu erhalten.

Sie erklärte die Notwendigkeit eines solchen Projekts in Norwegen, da Menschen mit Behinderungen in Norwegen keinen Zugang zu Hochschuleinrichtungen haben und ihre Ausbildung nach der Schulbildung endet. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit zwischen der VID, der Stadtverwaltung Oslo und einer Reihe von NGOs, wobei auch Fachwissen aus Projekten in anderen Ländern, wie z.B. Deutschland, einfließt. Ein menschenrechtsorientierter Ansatz, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde sind für die Initiator*innen des Projekts von zentraler Bedeutung. Professor Lid ist sich bewusst, dass dieses Projekt mit großer Verantwortung verbunden ist, da Bildung einen gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen bedeuten sollte und jeder diesen Zugang auch tatsächlich haben sollte. Der Lehrplan für ihr Projekt soll bis 2021 fertiggestellt sein. Das Team hofft dann die ersten Studierenden in ihrem zweijährigen Programm, das 60 ETCS umfasst, willkommen zu heißen. Das Projekt ist so konzipiert, dass es sich an den Lernstil, den Bedarf von Betreuung und an die pädagogische Unterstützung der Lernenden anpasst (siehe Lid_3IN-Webinar). Sie planen, die beiden traditionellen Ansätze der vollständigen Integration auf der einen Seite und der strikten Segregation auf der anderen Seite innerhalb von Bildungsinstitutionen zu vermischen, um die bestmögliche Lernatmosphäre für ihre Teilnehmenden zu erreichen. 

Hier die Folien zum Vortrag.

Die beiden Professorinnen sind Mitglieder der DIAK in Finnland und haben ihren Schwerpunkt in Forschung und Lehre auf Multikulturalismus und soziale Integration gelegt. Sie initiierten ein Projekt, das Studierenden aus Immigranten- und Roma-Familien den Zugang zur Hochschulbildung erleichtern soll. In ihrer Präsentation beschrieben sie das Ergebnis ihres Projekts und die Methoden, die zur Umsetzung ihrer Ziele eingesetzt wurden.

Das Projekt der Professorinnen wurde an zwei verschiedenen Orten in Finnland durchgeführt. Sie starteten das Projekt in Satakunta und in Nord-Ostbottnien. Ihr Ziel war es, den Übergang von einer Bildungsstufe zur nächsten zu erleichtern und einfach zugängliches digitales Material über die Möglichkeiten für Einwanderer*innen auf deren Muttersprachen zu erstellen. Die Professorinnen entwickelten einen sensiblen Unterstützungsrahmen und boten vorbereitende Schulungen an, in denen die Teilnehmenden ihre finnischen Sprachkenntnisse verbessern konnten. Dort konnten sie durch die Angebote ihre Eigeninitiative und Selbständigkeit in Bezug auf das Studium fördern. Auf diese Weise wollen Professorinnen einen faireren Prüfungsprozess für ethnische Minderheiten erreichen. Da sie viel zu viele Bewerber*innen hatten, mussten sie eine Aufnahmeprüfung einführen. Sobald die Studierenden im Projekt aufgenommen waren, wurden sie in verschiedenen Bereichen unterstützt: Finnische Sprache, studentische Betreuung, persönliche Unterstützung, multikulturelle Trainings. Das Projekt läuft seit 2016 und hat inzwischen bereits zu 60 Abschlüssen geführt, und dazu, dass 1300 Teilnehmer*innen an Schulungen und Veranstaltungen partizipieren konnten. Außerdem eröffnete es für Menschen aus Einwanderer- und Roma-Familien die Möglichkeit, eine Ausbildung zu erhalten, um ihre Berufsträume zu verwirklichen (siehe Halonen-Pinoletho_3IN-Webinar). Nach Ansicht der Professorinnen waren der persönliche Kontakt und die intensive Betreuung einer der wichtigsten Aspekte, da sie sofortiges Feedback erhielten und das Programm schnell anpassen konnten. 

Hier die Unterlagen zum Vortrag.

Professorin Vibeke Glørstad ist leitende Dozentin an der Fakultät für Gesundheit am VID Norwegen. Als Forscherin konzentriert sie sich auf die Einbeziehung der aktiven Staatsbürgerschaft von Menschen mit Lernbehinderungen sowie auf die Nutzung von Kunst und Gemeinschaftstheater als einen Bereich des Ausdrucks und der Demokratie in Simbabwe und Europa. Sie hat sich auf die Bereiche Kunsterziehung, Staatsbürgerschaft und kognitive Behinderungen spezialisiert. In ihrem Vortrag sprach sie über die Situation in Europa und stellte einen Überblick zusammen, um verständlich zu machen, wie die Theaterpraxis die Menschenrechte verwirklichen kann und wie kreatives und intellektuelles Potenzial die Gesellschaft bereichern kann.

Professorin Glørstad verfolgte einen menschenrechtlichen Ansatz, als sie unterstrich, dass Bildung ein Menschenrecht ist und dass Menschen mit Behinderungen davon nicht ausgeschlossen werden dürfen. Darüber hinaus beschrieb sie Theateraufführungen als Freiheit der Meinungsäußerung und betonte dadurch ihren Vorschlag, an Hochschulen Theateraktivitäten und Kunst für Menschen mit Behinderung durch die Einführung von Werkstattausbildung und Theatergruppen, mit einzubeziehen. Ein weiterer Aspekt, der für Professorin Glørstad sehr wichtig ist, ist die aktive Bürgerschaft. Jeder Mensch hat das Recht, eine aktive Staatsbürgerschaft zu leben. Er*sie soll demnach nach Autonomie und Selbstverwirklichung strebt und an der Gesellschaft und den Entscheidungen, die in ihr getroffen werden, teilhaben und diese auch beeinflussen können. Ihrer Meinung nach gibt es keinen besseren Weg, dies zu erreichen, als über das Theater. Statt sich hierbei auf die Behinderungen der Menschen zu fokussieren, wird die Inklusion in den Theatergruppen durch die gemeinsame Teilnahme von Menschen mit und ohne Behinderung gelebt. Um diesen Aspekt sichtbarer zu machen, hat sie ihre Forschung bereits existierenden Theatern gewidmet, um mehr über deren Möglichkeiten der Inklusion und Partizipation herauszufinden. Sie stellte Theater in Serbien, der Schweiz und Norwegen vor, die zum Teil bereits mit Hochschulen zusammenarbeiten (siehe Glorstad_3IN-Webinar). Prof. Glørstad  zeigte deren besondere Strategien und Wege hin zur Verwirklichung von Inklusion auf. Sie beendete ihren Vortrag mit dem Hinweis, dass Kultur immer eine Bereicherung der Gesellschaft ist und dass es beim Theater vor allem um Leidenschaft geht und dass diese in jedem Menschen steckt. 

Hier die Folien zum Vortrag.

Der letzte Vortrag des Tages wurde von Professorin Theresia Wintergerst gehalten. Sie ist als Professorin an der FHWS tätig und gehört der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften an. Ihr Hauptlehrfach sind Werte, Normen und Sozialpolitik. Ihr Schwerpunkt liegt auf generationensensitiver Sozialarbeit und Sozialer Arbeit in einer alternden Gesellschaft. In ihrem Vortrag ging Professorin Wintergerst in einem theoretischen Ansatz auf die Ungleichheit im Hochschulbereich ein und konzentrierte sich auf Diskriminierung aufgrund sozialer Ungleichheit.

Sie nannte zunächst einige Hürden in der deutschen Gesellschaft, die ihren benachteiligten Mitgliedern den Zugang zu den Hochschulsystemen erschweren. Oft fangen die Probleme schon in jungen Jahren an und manche Menschen haben Schwierigkeiten, die Hürde der Hochschulzugangsberechtigung zu überwinden. Eines der Hauptprobleme ist, dass der soziale Hintergrund eine wichtige Rolle spielt, wenn es um Bildungsmöglichkeiten geht. Folglich beeinflusst der Bildungshintergrund der Eltern oft die Entscheidung für oder gegen ein Studium. Zudem scheuen sich junge Menschen oft davor, die Universität als Berufsweg zu wählen, da sie unsicher bezüglich der Finanzierung des Studiums sind und die Zukunftsperspektiven, bzw. Karrieremöglichkeiten nur schwer einschätzen können. Sie begründete diese Art der Entscheidungsfindung mit einer Theorie von Pierre Bourdieu, in welcher der Begriff "Habitus" zentral ist, da mit ihm die Motivationen, Ansichten, Erfahrungen und Life-Styles als wechselseitige Beziehung zum sozialen Umfeld erklärt werden. Habitus bedeutet, dass Menschen versuchen die Situationen, die ihnen bekannt sind, zu reproduzieren. Die drei verschiedenen Formen des vorhandenen menschlichen Kapitals beeinflussen diesen Habitus. Das ökonomische Kapital bedeutet Einkommen und Wohlstand. Einen höheren Abschluss zu erzielen ist zwar ein Investment in die Zukunft, wobei die Frage, ob sich dieses Investment finanziert je nach finanzieller Situation unterschiedlich beantwortet wird. Das kulturelle Kapital meint unter anderem die Gesamtheit von erreichten Qualifikationen in der Bildung, wie Titel oder Abschlüsse. Ein bestimmter Schulabschluss ist ein ausschlaggebendes Kriterium für die Möglichkeit zur Hochschulbildung. Die dritte Kapitalform, das Soziale Kapital, umfasst alle permanenten Beziehungen und Vernetzungen zu anderen Personen. Beziehungen zu Personen, die selbst in der Hochschulbildung waren oder sind können ein großer, ausschlaggebender Faktor bei der Entscheidung für die Hochschulbildung sein. An diesem Punkt schlug Prof. Wintergerst den Bogen zur Theorie von Amartya Sen, nach der die Freiheiten der Menschen so erweitert werden müssten, dass sie – die Menschen – ein gutes Leben führen könnten, während Gründe für Unfreiheiten, wie beispielsweise eben genanntes fehlendes ökonomische Kapital, beseitigt werden müssten. Bei der Erweiterung solcher Freiheiten kann die Hochschule beispielsweise im Bereich Transparenz oder soziale Chancengleichheit aktiv werden. Sie schloss ihre Rede mit einer umfassenden To Do Liste, an der sich Hochschulen orientieren könnten, um die Soziale Inklusion am Hochschulleben für alle Menschen gleichermaßen zu ermöglichen (siehe Wintergerst_3IN-Webinar).

Hier die Folien zum Vortrag.

Fazit

Wieder einmal kann das von FHWS 3IN organisierte Webinar als Erfolg gesehen werden, da die Teilnehmenden sowie die Referentinnen selbst interessante und neue, internationale Einblicke in verschiedenen Feldern der sozialen Inklusion gewinnen konnten. Dabei wurden gegebene Ungerechtigkeiten in verschiedenen Strukturen beleuchtet und diskutiert. Von strukturellem Rassismus in der Hochschullehre (Deutschland), über den Zugang zu Hochschulbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten (Norwegen) oder Immigranten (Finnland) und über inklusive Theatergruppen und deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche Integration (Norwegen), bis hin zu einer theoretischen Fundierung über Hürden des Zugangs zur Hochschulbildung speziell für Menschen die nicht aus akademischem Hause kommen (Deutschland) wurde ein breites Spektrum an sowohl existierenden Projekten aber auch an noch offenem Handlungsbedarf gezeigt. Vor allem aber schlug jede Referentin unterschiedliche Wege vor, wie man Ungleichheit auf nationaler und internationaler Ebene aktiv angehen kann.

In der Hoffnung, dass die Referentinnen die neuen Ideen und Impulse mit an ihre jeweiligen Hochschulen nehmen und dass eine weiterführende Vernetzung stattfinden kann, nochmal ein herzliches Dankeschön an alle Referentinnen, die diesen Nachmittag interessant gemacht und die Teilnehmer*innen für soziale Inklusion sensibilisiert haben.