Blogeintrag 1 - Bald geht es los!
„Höchste Infektionsquote weltweit!“, „Portugals Gesundheitssystem vor dem Kollaps!“. Ich lese die Schlagzeilen immer wieder und wieder in der Hoffnung, die Buchstaben würden sich vor meinen Augen auflösen und sich in neue, positivere Worte verwandeln.
Ob ich es in Worte fassen kann, wie es sich anfühlt, wenn man in dem Glauben gelassen wurde im derzeit sichersten Land studieren zu werden und sich dann die Lage auf einmal drastisch verschlechtert? Schwierig. Ich sitze vor meinem Laptop im Büro des Gesundheitsamtes, wo ich gerade meinen Ferienjob mache, als ich während meiner Mittagspause die Nachrichten lese und mir kurz ganz übel wird. Dabei hatte alles so gut begonnen...
Juli 2020. Corona ist in aller Munde und aufgrund der katastrophalen Lage können die meisten aus meinem Studiengang International Management ihr Auslandssemester nicht wie geplant im dritten Semester antreten. Für mich wäre es nach Groningen in den Niederlanden gegangen, was zugegebenermaßen damals bei der Verlosung im ersten Semester nicht meine Erstwahl war, aber in Lissabon einen Platz zu ergattern stellte sich als sehr schwierig dar, da die Stadt der sieben Hügel bei uns allen sehr beliebt ist. Mein Herz schlug einfach schon immer für Portugal. Nach einem wunderschönen Urlaub an der Algarve vor zwei Jahren, wusste ich, dass ich die portugiesische Hauptstadt unbedingt auch noch sehen will, denn Portugal ist einfach atemberaubend schön. „Lissabon war letztes Jahr das Hauptreiseziel von unseren Kunden”, erzählte mir vor einigen Monaten ein Flugbegleiter der Fluggesellschaft Lufthansa einmal bei einer BlaBlaCar Fahrt von Würzburg nach Frankfurt. „Ahja, jetzt haben sie Mallorca mittlerweile also auch mal satt“, dachte ich mir damals. Mich hat Portugal mit seinen Surfer Stränden und seiner unberührten Natur schon als kleines Mädchen in seinen Bann gezogen. Ich habe mich schon vor Jahren bei der App „Tandem” angemeldet, um Portugiesisch zu lernen, höre schon immer gerne portugiesische Musik und beschäftige mich schon ewig intensiv mit der Kultur dort. Also galt jetzt: Neues Spiel, neues Glück für das vierte Semester. Ich bewarb mich für die letzten zwei freien Plätze für Lissabon und ich weiß noch genau, als ich damals mitten in der Nacht von einem Alptraum aufgewacht bin und in unserer WhatsApp Gruppe schon tausend Nachrichten aufploppten „Die Liste mit der Verteilung der Plätze für das Auslandssemester ist da!“. Zweimal war Lissabon in der Excel Liste grün hinterlegt. Vor einem grünen Feld stand meine Matrikelnummer. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Der Alptraum im Schlaf verwandelte sich zum schönsten Traum, der Wirklichkeit wurde.
Und jetzt? Portugal galt lange Zeit als Vorzeigeland in Bezug auf Corona. Irgendwie haben die Portugiesen es monatelang geschafft, ihre Zahlen sehr niedrig zu halten und das, obwohl Fitnessstudios, Restaurants und Universitäten weiterhin geöffnet hatten. Von allen Seiten wurde mir nur mitgeteilt, wie unglaublich glücklich ich doch sein muss, dass ich im Vergleich zu meinen Kommilitonen ein nahezu „normales” Auslandssemester erleben darf. „Hm, in Antwerpen sind die Zahlen gerade auch sehr niedrig, das bedeutet dann auch nur, dass sie bald wieder stark ansteigen, das kann ja nicht lange gut gehen, wenn dort alles ganz normal offen hat, gerade jetzt mit den Mutationen.. mir wäre es lieber sie würden jetzt gleich handeln und jetzt schon den Lockdown ausrufen”, teilte mir meine Freundin, die ein Auslandssemester in Antwerpen machen wird, am Telefon mit, als wir mal wieder einen unserer wöchentlichen #halbvordemNervenzusammenbruchimLockdown Anrufe hatten. Ich dachte kurz über ihre Worte nach, aber dann las ich wieder die ganzen positiven Nachrichten in den Erasmus Facebook und WhatsApp Gruppen, die alle von Lissabon und der aktuell tollen Situation schwärmten und die Worte meiner Freundin verschwanden ganz schnell in den Teil meines Gedächtnisses, wo sonst höchstens nur alte Latein Vokabeln oder Mathe Formeln verbannt wurden. Doch plötzlich verschlechterte sich die Lage in Portugal extrem, gerade in Lissabon, wo Inzidenzwerte von bis zu 1200 erreicht wurden.
Erasmus steht für Zusammenhalt und Gemeinschaft und genau das sollte jetzt auch im Vordergrund stehen. Man muss an einem Strang ziehen, denn alleine könne wir diese Pandemie nicht bekämpfen. Den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl spüre ich bereits jetzt in den Erasmus Gruppen in den sozialen Netzwerken, in denen ich mich schon mit einigen Studenten aus der ganzen Welt austausche. Wir sind uns einig: Wir wollen nicht nur über einen Bildschirm kommunizieren, sondern miteinander die tollsten Plätze Lissabons entdecken.
Jedoch herrscht in meinem Kopf die totale Verwirrung. Ich will versuchen, die perfekte Lösung für uns zu finden aber bedeutet das, dass wir am besten erstmal nach Faro fliegen und dann eventuell weiter zu den Azoren oder nach Madeira reisen wo Corona nicht so schlimm ist wie in Lissabon oder, dass wir noch warten und dann eventuell nur zwei bis drei Monate in Portugal sind? Oder doch einfach das Semester komplett online von Deutschland aus machen? Mein Blick schweift vom Bildschirm weg zum Fenster, durch welches ich jedoch nicht mal wirklich hinausschauen kann, da es so übersät ist mit Regentropfen. Dahinter ein trister grauer Himmel. Will ich wirklich hier bleiben?
Vor einigen Tagen hatten wir unser erstes Meeting mit der Uni in Lissabon. Normalerweise hätte an diesen Tagen die „Introduction week“mit vielen Events, Party und Spaß stattgefunden. Jetzt sitzen wir alle mit müdem Blick vor unserem Bildschirm im Zoom Meeting, welches von einer sehr angespannten aber auch traurigen Aura umhüllt war. Ob wir Präsenzlehre haben oder ob wir komplett online studieren, steht tatsächlich aktuell noch in den Sternen aber ich bin sehr begeistert darüber, wie stark sich die Professoren um uns kümmern und sich für uns einsetzen. Unsere Erasmus Ansprechpartnerin wirkt so warmherzig und nett, man fühlt sich sofort wohl. Zwei Tage später erreicht uns eine Mail von unserer Partneruni Instituto Politécnico de Lisboa, in der sogar davon die Rede ist, nach Ostern eventuell wieder Präsenzunterricht anzubieten. Es fühlt sich irgendwie schon fast falsch an, wieder einen Funken Hoffnung zu verspüren aber dieser breitet sich tatsächlich ein wenig in mir aus. Aktuell befindet sich Lissabon allerdings auch noch im Lockdown. Eine Besserung ist in Sicht, es könnte jedoch noch ziemlich lange dauern, da auch der Impfprozess dort nur sehr schleppend voran geht. Werde ich also in drei bis vier Wochen wirklich im Flugzeug sitzen, wenn dann sogar eventuell das Semester in Präsenz abläuft?
Und dann wird plötzlich alles ganz schnell gehen, ich fühle mich aber noch gar nicht bereit. Einerseits möchte ich langsam die Reise planen, andererseits habe ich Angst, mich wieder komplett darauf einzulassen um dann am Ende von der Welle der Enttäuschung nur noch härter getroffen zu werden. Wenn wir wirklich erst eine Woche vor Ostern Bescheid kriegen, ob wir in Präsenz unterrichtet werden oder nicht, haben wir noch drei Wochen Zeit um alles zu organisieren. Was will ich alles mitnehmen, wen will ich vor der Reise noch sehen und was muss ich vor der Reise unbedingt noch erledigt haben? Mein Reisekoffer steht schon seit einigen Tagen in meinem Zimmer und anstatt ihn zu befüllen, starre ich ihn einfach immer nur an, so als würde er mir eine Antwort geben können, an die ich mich klammern könnte. Durch Corona hab ich einen Teil meiner Spontanität und Lässigkeit verloren. Früher bin ich einfach spontan in die Welt aufgebrochen, habe mich einfach mal treiben lassen und nicht alles komplett durchgeplant. Ziemlich schwierig in Zeiten von Quarantäne, PCR-Tests und Hygienemaßnahmen.
Jetzt sind wir durch Corona also alle viel ängstlicher und vorsichtiger und irgendwie kommen uns unsere ganzen Träume für unsere Studienzeit naiv und albern vor. Wo ist das kleine Mädchen in mir hin, das immer voller Energie und Offenheit die Welt erkunden wollte? Wer ist diese ängstliche Frau, die nicht aus ihrer Komfortzone ausbrechen will? Ganz still und heimlich hat sie das kleine Mädchen in mir immer weiter weggedrängt und sich selbst breit gemacht. Dieser Gedanke gefällt mir gar nicht. Ich scrolle die Seite des Fluganbieters immer wieder rauf und runter. In drei Minuten ist meine Pause vorbei und ich muss mich wieder der Arbeit widmen. Die zwei Felder leuchten in grellem gelb vor mir auf:„Yes, book and pay for ticket“ und daneben „Cancel” und ich klicke auf…
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